21. Oktober 2019 | Dorothea Kurteu

Gedanken zur Eröffnung des Symposiums “Was für eine Geschichte?! – Erzählende, therapeutische und künstlerische Handlungen einer Kultur des Erinnerns” am 21. September 2019 in Graz.

Was für eine Geschichte?

Wir haben diesen Tagen den Titel “Was für eine Geschichte” gegeben. Und wir haben ein Fragezeichen und ein Rufzeichen dahintergestellt.

Das Fragezeichen trägt vor allem den Aspekt, dass Österreich zu seiner Geschichte des 20. Jhdt eine uneindeutige Haltung gepflegt hat. Da gibt es diese immer wieder erzählte Geschichte des Opfermythos. Erst 1991 hat Franz Vranitzky als erster offizieller Vertreter dieses Landes die Mitschuld von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus und des 2. WK bekannt und dafür Verantwortung übernommen.

Das Fragezeichen war damit nicht verschwunden. Die Erzählungen der Geschichte blieben von vielen Zwischentönen und Brüchen begleitet.

Und spätestens seit 2015 darf wieder ganz offen gesprochen werden. Rechtes Gedankengut, Themen und Sprachbilder, die auf den NS verweisen, erzeugen zunehmend weniger Widerspruch, wir gewöhnen uns. Identitäre Nationale Konzepte sind gesellschaftsfähig. Wir erleben ein Infrage stellen von Demokratie, wie wir es nicht mehr für möglich gehalten haben.

Die Welt ist nicht wie in den 1930er Jahren und dennoch: Ein nicht geschautes Erbe lebt hier weiter. Nicht nur in Österrreich. In vielen Ländern Europas, im noch EU Land Großbritannien, in den USA, in Brasilien, … in den jeweiligen regionalen und geschichtlich geprägten Formen von Faschismus.

Was für eine Geschichte!

Das Rufzeichen trägt den Aspekt der übermächtigen Bedeutung, der Wucht dieser Geschichte, der wir uns als Personen, Freunde und Familien oft vielleicht als nicht gewachsen empfinden. Vor allem auch dann nicht, wenn die Gesellschaft dafür keine ausreichende Rahmung, keine klare Orientierung, kein gemeinsames Narrativ bietet, siehe oben.

Dann besser: lasst es doch einmal gut sein.

Das Archipel des Erinnerns

Was wäre, wenn unsere Gesellschaft, unser Gemeinwesen – und mit diesem etwas altmodischen, doch glücklicherweise in Renaissance gekommenen Begriff, wechsle ich den Blick zu dem, was und wie wir tun könnten und zu dem, das ja auch bereits zunehmend lebendig geschieht –

– Was wäre, wenn unser Gemeinwesen mehr Räume hätte, die uns lebendige Handlungen einer Kultur des Erinnerns ermöglichen? Und Erinnern meint hier immer auch Gegenwart. Und Zukunft. Meint nicht nur Innerlichkeit. Immer auch das und die Gegenüber, den Blick über die kleinen und großen Grenzen.

Räume der Geschichten und Erzählungen, des Zuhörens, der Fragen.

Räume der Kunst

Räume der Wissenschaft

Therapeutische Räume

Räume in denen Angst sich zeigen darf, Schmerz, Wut, Trauer und Scham

Räume der Verantwortung und des Mutes

Räume der Revolution(en) im Alltag. In denen Neues entworfen oder erinnert und geübt werden kann.

Räume der staatlichen demokratischen Politik natürlich auch

Räume, an denen sich Generationen begegnen, bereichern und voneinander lernen  können. Generationenlernen in beide Richtungen! Ein schönes Beispiel: wenn die Omas gegen Rechts sich am großen Earth Strike der Fridays for Future beteiligen. Um im Fachjargon zu sprechen: Die Kriegskinder machen hier mit den Kriegs-Urenkeln gemeinsame Sache im Sorge tragen um die Zukunft.

(by the way – Räume in denen zwischen Sorgen machen und Sorge tragen unterschieden wird. caring for each other)

Und natürlich braucht es und gibt es da noch viele Räume mehr. Ein Archipel. Eine Vielheit an Inseln. Und die Seewege! Bewegungen der Begegnung, der Kommunikation, der Öffentlichkeit. Gepflegte Verbindungen von privat und politisch, persönlich und gesellschaftlich.

Ein Gemeinwesen, das sich seine Geschichten erzählt. Vergangene und Zukünftige.


Literatur

Der lange Schatten der Vergangenheit, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Aleida Assmann. Verlag C.H.Beck

Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Harald Welzer. S.Fischer

Kultur und Identität, Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Édouard Glissant. Wunderhorn


Das Symposium

“Was für eine Geschichte?! – Erzählende, therapeutische und künstlerische Handlungen einer Kultur des Erinnerns” war in unterschiedlichen Formaten über mehrere Tage angelegt:

Es gab zwei erzähl_Mahl Tischgespräche am 18. und 20. September. Einen Abend mit Playbacktheater des SOG Theaters und Vortrag von Luise Reddemann, Begründerin der Psychodynamisch Imaginativen Trauma Therapie (PITT) am 21. September und einen ganztägigen Workshop mit Luise Reddemann am 22. September 2019.

Die Veranstaltung war eine Zusammenarbeit von Dorothea Kurteu mit Die Intervention. Kulturelle Handlungen und Institut APSYS. Institut für Systemische Praxis, gefördert vom Land Steiermark, Ressort Bildung und Gesellschaft.

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