9. Juni 2020 | Dorothea Kurteu

Mein persönlicher Alltag, meine Handlungen, meine Möglichkeiten sind in der Woche nach Pfingsten beinahe zu der mir eigenen Normalität zurückgekehrt. Wir haben mit einem schönen Fest den Geburtstag einer Freundin gefeiert, unterbrochene Theaterproben wieder aufgenommen und ich habe unerwartet früh neue Aufträge: so werde ich gemeinsam mit Familie und Freunden eines jungen Mannes und Vaters zweier Mädchen, der sich das Leben genommen hat, Erinnerungen an ihn in Form von mündlichen Erzählungen sammeln und daraus ein Hörbuch gestalten. Eine herausfordernde, schöne Aufgabe. 

Seit einigen Tagen “darf” ich auch wieder die Grenze nach Slowenien passieren und damit ans Meer reisen. Diese Möglichkeit lässt mich freier durchatmen, doch liegt gerade auch hier, im Thema der paternalistischen Nationen und der geschlossenen Grenzen, eine Unruhe für die Zukunft, eine Aufmerksamkeit als europäische Bürgerin, die ich mir bewahren werde. 

Die Philosophin Isolde Charim hat in einem Essay von Corona als “Kontrastmittel, das in die Ritzen unserer Gesellschaften dringt und die Leerstellen sichtbar macht” geschrieben.

Hold my love or leave me high

Als ich an einem der letzten Abende mein Rad vor dem Haus abstelle, winkt Claudia, meine Nachbarin und Vermieterin aus dem Fenster. Sie hat uns allen hier, die wir freischaffend in Berufen arbeiten, die als erstes down waren und jetzt erst nach und nach wieder unlocked sind, die Miete reduziert. Jetzt hat sie einen Strauß der letzten Pfingstrosen für mich gepflückt, ausserdem ist ein spanischer Kichererbseneintopf gerade fertig. Wir sind nicht kuschelig hier im Haus, keine besten Freunde, doch wir achten aufeinander, leben Nachbarschaft und Caring jetzt noch einmal bewusster.

Der Eintopf ist wunderbar, er verbindet scharf und süß. Das Rezept hat Claudia von ihrer Tochter, die in Barcelona lebt. Wie ihre Mutter ist sie Stadtführerin, zur Zeit ohne Arbeit und Einkommen. Zum Glück ist ihre Partnerin Lehrerin und deren Job systemrelevant. Die Hochzeit, für Juni geplant, musste aufgeschoben werden. Unsere beiden Töchter sind im selben Alter, Ende 20, und beide leben zur Zeit in anderen Ländern Europas unter strengeren Bedingungen als ihre Mütter hier in Österreich. “Wir werden diese Krise besser und schneller meistern, als alle anderen” – hat unser Vizekanzler Werner Kogler (Die Grünen) schon in den ersten Tagen des Lockdowns formuliert. Sätze wie dieser halten meine Unruhe wach.  

Vom Esstisch auf der Terrasse meiner Nachbarin aus kann man, etwas verborgen hinter den Büschen, eine Skulptur sehen. Sie ist groß und körperlich, zugleich filigran und luftig, dünne Metallstäbe in leuchtendem Blau formen eine weibliche Gestalt, eine Schale hält sie vor sich in den Händen. Ich habe sie gleich erkannt, als ich sie vor vielen Monaten das erste Mal entdeckt habe. Doch ich habe nachgefragt – “Was ist das für eine Skulptur?” – “Das ist eine Westafrikanische Flussgöttin. Ein Künstler aus Benin hat sie gestaltet. Mein Mann hat sich diese Arbeit zur Pensionierung selbst zum Geschenk gemacht.” Ich habe damals erzählt, dass mir diese “Göttin” bekannt ist aus ihrer Migration nach Brasilien, dass sie dort Iemanjá genannt wird und dass aus der Flussgöttin eine des Meeres geworden ist. Heute sprechen wir nicht über sie, und ich weiß nicht, ob ich Claudia auch erzählt habe, dass diese Iemanjá auch eine mächtige Gefährtin im Mütterlichen ist.

Fearless was my middle name

“Wenn ich groß bin, werde ich in England leben!” – Es gibt nicht wenige Fotos, die meine Tochter Magdalena gemeinsam mit ihrer Freundin Laura auf ihrem Weg hinaus in die Welt zeigen. Beide ein Stoff-Pinkerl um einen robusten Holzstock gebunden und über die kleinen Schultern gelegt. Jause hatten sie darin eingepackt und sind an den nahen Waldrand gezogen, haben dort am Bach ihre erste Rast auf dem weiten Weg gemacht, ihre Spiele gespielt, ihre Phantasien gelebt, ausser Sicht- und Hörweite von uns Erwachsenen.

Heute, mehr als 20 Jahre später, sind sie immer noch Freundinnen. Laura lebt als Architektin und Künstlerin zwischen Bali, Australien und Neuseeland, Magdalena seit mittlerweile acht Jahren als Mikrobiologin auf ihrer geliebten Insel Britannien. Das ist eine schöne Geschichte. Das Leben hat gerufen und ein Mädchen, jetzt eine junge Frau, hat geantwortet. Auf ganz selbstverständliche Weise, unaufgeregt, konsequent. Was nicht heisst, dass es leicht war, sie hat viel investiert, viel lernen und viele Herausforderungen meistern müssen.

Keep within the boundaries if you want to play

Die Bevölkerung Großbritanniens hat im Juni 2016 mit knapper Mehrheit beschlossen, die EU zu verlassen. Für Viele, auf der Insel und am Kontinent, eine Erschütterung und eine Entscheidung, die in ihren Motiven mit vielen weiteren politischen Bewegungen korrespondiert, die sich in diesen Jahren in Europa und weltweit ereignet und angebahnt haben.  

“Alles, was den Briten heilig ist, wird durch den EU-Austritt infrage gestellt. Demokratie, Parlament, Toleranz, selbst die sprichwörtliche Gelassenheit. […] Eine Nation zieht sich in eine Vergangenheit zurück, die sie in der Zukunft nicht mehr finden wird” – schreibt die Journalistin und Historikerin Tessa Szyszkowitz

Österreich ist der EU am 1. Jänner 1995 beigetreten. Meine Tochter wurde gerade drei Jahre alt, ich war 28, so alt wie sie jetzt. Ich habe damals unter anderem beim regionalen ORF Kinderradio gearbeitet und ich habe Magdalena oft mit dabei gehabt, wenn ich mit einer kleinen Horde von 10 bis 12-Jährigen losgezogen bin – sie waren mit mir unsere Reporter*innen. Im Vorfeld der Abstimmung über den Beitritt haben wir alle möglichen Leute befragt, die etwas Interessantes  zum Thema Europa und EU zu sagen hatten. Ich erinnere mich gut an einen Nachmittag im Büro eines Zeithistorikers, der den Kindern vom zugrundeliegenden Friedensgedanken der Union erzählt hat. Das hat mich nachhaltig geprägt, und vielleicht auch die Kinder, auch meine damals kleine Tochter. Und auch wenn ich diese Gründungsidee und das, was ich in den letzten 25 Jahren erlebt habe, jetzt kritischer sehe, es bleibt: Europa ist für mich ein Friedensprojekt, gerade auch wegen seiner Historie, die schon so viel Unheil bewirkt hat. Das Gelingen oder Scheitern eines wirklichen Miteinander dieses relativ kleinen Fleckchens Erde hat große Relevanz für die Welt.  

Aufmerksam verfolge ich die Arbeit der Politikwissenschafterin Ulrike Guérot (1). Ihre klugen, mutigen, phantasievollen Utopien einer Europäischen Republik der Regionen und der Gleichheit vor dem Recht für die Bürger*innen haben meine Arbeit in den vergangen Jahren sehr inspiriert. Und wie sie war ich fassungslos, traurig und zornig, als die Europäischen Länder Mitte März reflexartig regressiv ihre Grenzen dicht gemacht haben. Ulrike Guérot betont, wie wichtig es ist, mit welchen Erinnerungs-Bildern wir aus dieser Krise weitergehen. 

I’m prepared to look you in the eye. Look me in the eye

Meine Tochter sitzt seit drei Monaten mehr oder weniger in ihrer Wohnung im Norden Manchesters fest. Sie hat gute Arbeit und Geld, ist persönlich keiner Gefahr ausgesetzt, doch anhaltender Ungewissheit. Sie lebt in einem Land, das sein Gesundheitssystem völlig neoliberalen Gesetzmäßigkeiten unterworfen und kaputtgespart hat, in einem Land regiert von unberechenbaren Männern in nationaler Brexit Hybris.

Magdalena ist wütend, doch sie hat die Wahl, auch jetzt wieder. Sie und ihr Partner gehören zu den gut ausgebildeten Jungen, die ihr Glück woanders suchen und finden können, selbst wenn ein Lebenstraum sich dadurch vielleicht schmerzlich verwandeln muss. Doch viele andere junge Leute haben diese Wahl nicht, oder sie wissen nichts davon, weil man ihnen diese Ideen nie zugänglich gemacht oder früh ausgetrieben hat, oder sie machen sich auf den Weg, weil sie hoffen, doch die Wahl zu haben und werden dann an unseren Grenzen zurückgewiesen.

Meine Tochter und ich sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten und unser culture clash bedarf des guten Ausgleichs. Doch es gibt Räume, in denen wir uns immer wiederfinden. Es sind politische Räume zu Fragen und Geschichten der Frauen und der Gerechtigkeit. Und es sind die Räume der Stories, der Songs, der Mythen. 

Wenn Tessa Szyszkowitz die Brexit-Polit-Protagonisten aus Shakespeares Dramen herleitet, wenn Ulrike Guérot in sinnlichen Bildern an die weibliche Europa erinnert und daran, dass man den alten griechischen Mythos mit dem Macho Zeus auch anders erzählen kann und muss, wenn Michael Stipe “Walk unafraid” singt, dann finden wir beide Freund*innen und Gefährt*innen.


Anmerkungen:

(1) Eine Bemerkung muss ich hier zu Ulrike Guérot machen. Ich schätze ihre Gedanken zu Europa und auch manch anderen Fragen sehr. In der Zeit der Corona Pandemie hat sie sich allerdings zunehmend “querdenkerisch” (auch manche Begriffe haben ihren Bedeutungshintergrund verändert) geäussert. Unter anderem ist sie wiederholt bei Servus TV aufgetreten, ein Sender, der aus meiner Sicht eine demokratiepolitisch problematische Rolle in der österreichischen Medienlandschaft spielt.

Literatur:

Tessa Szyszkowitz. Echte Engländer. Britannien und der Brexit. Picus Verlag

Ulrike Guérot. Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Verlag J.H.W. Dietz 

Ulrike Guérot. Was ist die Nation? Steidl Verlag

Songzitate aus “Walk Unafraid”, Up, R.E.M. Warner Bros Records

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert